Seit fast vier Wochen gehen die Menschen in der Kaukasusrepublik Georgien auf die Straße. Während die Polizei am Anfang mit großer Brutalität, Tränengas, Wasserwerfern und Massenfestnahmen gegen die Demonstrierenden vorging, hat die Regierung seit einigen Tagen die Strategie geändert. Denn die Polizeigewalt, Massenfestnahmen und die Misshandlung von Festgenommenen hatten immer mehr Menschen gegen die Regierung auf die Straße getrieben.
Ich habe mich spontan entschieden, auf eigene Kappe nach Georgien zu fahren, um zu sehen, was da am äußersten Rand Europas gerade passiert. Den Einstieg für meine Reportage liefert aus dem Nichts eine Frau auf der ersten nächtlichen Busfahrt vom Flughafen Kutaissi nach Tiflis: Sie singt ganz leise, zart und kaum hörbar die „Ode an die Freude“, die Hymne der Europäischen Union. Es ist fast zu stereotyp, um wahr zu sein.
Am Thema Europa haben sich die neuerlichen Proteste entzündet, denn die Regierungspartei „Georgischer Traum“ des Oligarchen Bidsina Iwanischwili möchte den Beitritt zur EU auf Eis legen, obwohl dieser in der Verfassung festgeschrieben ist. Mit der Abkehr von der EU ist automatisch eine Nähe zu Russland verbunden und eine autoritäre Wende des Landes.
Tausende gingen daraufhin jeden Tag auf die Straße. Ihre Forderung sind sofortige Neuwahlen – und nach den zahlreichen Festnahmen der letzten Wochen auch die Freiheit aller politischen Gefangenen. Ende Oktober hatte die russlandnahe Regierungspartei „Georgischer Traum“ die Wahlen knapp gewonnen, es gibt starke Vorwürfe von Wahlbetrug, Stimmenkauf und Bedrohung, auch die OSZE kritisierte die Wahlen. Die Demonstrierenden sehen die Regierung als illegitim an.
„Die Regierung will den Protest jetzt aussitzen“, sagt George Melashvili, der Vorsitzende des liberalen Europäisch-Georgischen Instituts (EGI). Jetzt komme Neujahr und das orthodoxe Weihnachtsfest, es ist klirrend kalt draußen. Der Protest soll sich totlaufen und tatsächlich waren die Zahlen der Protestierenden geringer in den letzten Tagen als die mehr als 100.000, die auf dem Höhepunkt der ersten Protestwelle auf der Straße waren. Doch jeden Tag findet ein knappes Dutzend Demonstrationen landesweit statt, in der Hauptstadt Tiflis enden diese immer beim Parlament.
Ich treffe George Melashvili in einem Café nahe der Rustaveli Avenue, dem Epizentrum der Proteste. Melashvili glaubt nicht daran, dass es schnell geht mit den gesellschaftlichen Änderungen oder dass jetzt der plötzliche Umsturz kommt. „Es ist ein Marathon“ und selbst wenn zwischendurch die Zahlen der Demonstrierenden sinken würden, wachse die Zivilgesellschaft in die Tiefe und Breite und sei beim nächsten Fehler der Regierung sofort wieder da.
Proteste gehen jeden Abend weiter
Doch dann am Mittwoch, dem Abend des 21. Protesttages, sind wieder mehrere tausend Menschen auf der Straße vor dem Parlament, flanieren und stehen auf der Prachtstraße, die sonst sechsspurig mit Stadtverkehr voll ist, so dass man sie nicht überqueren kann. Immer wieder kommen größere und kleinere Demonstrationszüge an, winken mit den Handylampen und werden dann frenetisch vor dem Parlament begrüßt. Georgien ist ein kleines Land mit nicht einmal vier Millionen Einwohner:innen. Zuletzt hatten in Tiflis mehr als 100.000 Menschen demonstriert, aber wenn heute Abend hier 10.000 stehen, dann wäre das in Deutschland immer noch eine Demonstration mit 200.000 Teilnehmenden. Hinzu kommt, dass ein guter Teil der Wirtschaft die Proteste unterstützt: Mehr als 2000 Unternehmen aller Größen setzen sich für Neuwahlen und die Freilassung der Gefangenen ein.
In der Kälte verteilt ein Mann aus der Stadt Gori mit seiner Familie kistenweise Äpfel an die Demonstrierenden. „Wir sind auch da“, steht da auf einer der Kisten und dass die Äpfel beim Gewinnen helfen. Plötzlich haben überall Leute Äpfel in der Hand, beißen rein und lachen. Protest und Solidarität sind ein Zwillingspaar.
Es sind diese kleinen Dinge, die den Protest so vielfältig und sympathisch machen. Am Donnerstagabend treffe ich Ilene vor dem Parlament. Sie hat ein Teleskop mitgebracht und auf den Mond ausgerichtet. Mitten in der Demo. Die ganze Zeit kommen Menschen vorbei, schauen durch das Fernglas, lachen, freuen sich, umarmen sie. Ein älterer Mann hat Tränen in den Augen vor Freude.
Ilene selbst lächelt die ganze Zeit, strahlt über die Begeisterung der Leute. Seit drei Tagen bringt sie das Teleskop auf die Demo mit, denn Zugang zu Teleskopen haben in Georgien nur wenige: „Hier sind gerade die wunderbarsten Menschen Georgiens versammelt. Ich möchte Ihnen den Mond näherbringen.“ Die Idee bringt vor allem auch Menschen sich näher, die am Teleskop ins Gespräch kommen.
Die Demonstrationen haben Auswirkungen auf das gesamte Leben in der Stadt. Ich treffe Data, einen der Mitgründer der Dedaena Bar, einem angesagter Ort für Livemusik unten am Fluß Kura. Seit die Proteste laufen, hat Data normale Veranstaltungen abgesagt: „Wie könnten wir hier jetzt Programm machen, wenn 300 Meter weiter für die Zukunft des Landes demonstriert wird?“ In der Bar können sich jetzt Aktivist:innen aufwärmen, ihre Handys laden, Kaffee und Essen gibt es gegen Spende. Finanziell geht es jetzt an die Substanz, erzählt Data, der seine Angestellten weiter bezahlen möchte. Der Mann mit den wachen freundlichen Augen ist wütend: „Wir haben dieses Land in den letzten 15 Jahren aufgebaut, es hat sich soviel getan, es gehört uns Menschen – aber wenn sich die Regierung durchsetzt, kann ich hier nicht mehr leben.“
Auch der bestens vernetzte Data hält die Proteste, die seit knapp einem Monat laufen, für einen Marathon. Doch die Entscheidung müsse schnell her: „Jetzt oder nie – wenn wir zu lange warten, werden wir keine Demonstrationsfreiheit mehr haben, das Zeitfenster ist klein.“ In der Tat hat die Regierung als Reaktion auf die Proteste das Versammlungsrecht eingeschränkt, Überwachung ausgebaut, selbst das Kleben von Stickern wird mit drakonischen Geldstrafen versehen. Gesetze nach dem Vorbild des russischen „Agenten-Gesetzes“ hat die Regierung schon länger verabschiedet, sie richten sich offiziell gegen vom Ausland unterstützte Nichtregierungsorganisationen, werden aber die ganze Zivilgesellschaft treffen. Ebenso wurden zuletzt die Rechte sexueller Minderheiten eingeschränkt. Die Räume werden enger und enger, die Demokratie abgewürgt.
„Die Geburt eines neuen demokratischen Georgiens“
Der lebendige Gegensatz zu dieser düsteren Zukunft sind die Proteste in der Stadt und auf der Rustaveli Avenue: Es wird diskutiert, gelacht, Süßigkeiten und Tee geteilt. Immer mehr Leute kennen sich, grüßen sich. Es ist ein großer demokratischer Social Club, irgendwer spielt mit dem Dudelsack traditionelle Musik, woanders schwingt jemand mit dem Megafon eine Rede, Menschen singen zusammen alte georgische Volkslieder, immer wieder ist das Trillern der Pfeifen und das Tröten von Vuvuzelas zu hören. Hier steht die Zukunft des Landes mit Schildern, georgischen Flaggen und Europafahnen auf der Straße – und es sieht derzeit nicht so aus, als würden sie nach Hause gehen.
Schon am Samstag – es ist der 24. Protesttag in Folge – stehen etwa 20 Protestmärsche in der Hauptstadt an. Die Mode-Industrie geht auf die Straße, Universitäten, Freunde des Yogas, Tattoo-Fans und verschiedene Regionen des Landes. Und vielleicht am Wichtigsten an diesem Tag: Der Marsch der Tänzer:innen. Alle mit eigenen Demonstrationen, die zum Parlament führen.
20 Demos und alle zum Parlament
Nachmittags treffen sich an der Philharmonie Menschen aus der Bergregion Svanetien. Ein Mann mit Megafon in der Hand erzählt mir, dass es keine zentrale Organisation gäbe, irgendwer rufe zu einem Treffpunkt auf und dann kämen einfach Menschen. Er selbst habe ein Hotel in den Bergen, aber jetzt gehe es um alles, um die Zukunft, um die Demokratie.
Vielleicht tausend Menschen sind es bei dieser Demo, die irgendwann losläuft und direkt mutig auf die Stadtautobahn in Tiflis führt. Voller Solidarität wird sie dort von den Autofahrenden aufgenommen.
Die Svaneter:innen sind die ersten, die heute die sonst vielbefahrene Rustaveli mit ihrer Demo zum Stillstand bringen. Und dann kommen immer mehr Gruppen am Parlament an, ein oppositioneller Fernsehsender spricht von 200.000 Menschen, Zehntausende sind es auf jeden Fall. Die Regierung wird am Abend sagen, dass nur 3.000 Menschen protestiert hätten und die Luft raus sei bei den Protesten. Das Gegenteil ist der Fall.
Höhepunkt des Abends ist der Marsch der Tänzer:innen. Mit hunderten Menschen führen sie auf Rustaveli den traditionellen Kriegstanz Khorumi auf, aus Protest, wütend, politisch – und wenden so die Tradition gegen die Regierung. Tausende ziehen mit der Aufführung mit, bilden einen Kordon um die Tänzer:innen.
Der ehemalige Innenminister demonstriert jetzt mit
Mitten im Getümmel vor dem Parlament treffe ich Dimitri Tskitishvili, Außenexperte und ehemaliger Abgeordneter der oppositionellen „For Georgia“-Partei. Die ist eine Abspaltung des Georgischen Traum, welche der frühere Ministerpräsidenten und Innenminister Giorgi Gakharia vorangetrieben hat. Auch er ist da und demonstriert mit.
„Wir sehen hier auf der Straße die Geburt eines neuen demokratischen Georgiens“, sagt Tskitishvili. „Wenn wir gewinnen, dann wird diese Bewegung den Charakter des Landes mitprägen“. Dimitri Tskitishvili weist auf die demonstrierenden Menschen und sagt, dass hier auf der Straße Motor und Zukunft des Landes demonstrieren. „Ich habe deswegen Hoffnung, dass wir gewinnen.“
Die Oppositionsparteien würden jetzt gemeinsam kommunizieren und sich trotz Widersprüchen einigen können, erklärt Tskitishvili. Klar sei, dass zuerst alle Gefangenen freigelassen werden müssten und es so schnell wie möglich Neuwahlen brauche. Aber man könne nicht einfach die Wahlen mit den gleichen von der Regierungspartei besetzten Gremien neu durchführen, denn dann würde es wieder Betrug geben. Seine Partei arbeitet mit den anderen Oppositionsparteien zusammen, damit es freie und faire Neuwahlen gibt, sagt er, während ein neuer Demonstrationszug am Parlament ankommt. Es komme jetzt auf Druck von allen Seiten an. Das wichtigste sei die Straße, die Proteste im Land, aber auch das Ausland müsse handeln.
Europa soll handeln und unterstützen
Er persönlich habe sich mehr erwartet von Europa in Sachen Sanktionen, aber die EU sei eben ein komplexes Konstrukt. Aber auch einzelne Länder könnten jetzt die Vertreter der Regierung sanktionieren – und das passiere ja auch. Wichtig sei jetzt, dass die Länder kein falsches Signal an den Protest aussenden: „Die Visafreiheit für die normalen Leute muss erhalten bleiben, die Regierungsvertreter hingegen müssen mit Sanktionen belegt werden.“
Auch George Melashvili ist der Meinung, dass die europäischen Staaten zu wenig tun, um die Demokratiebewegung in Georgien zu unterstützen. „Wenn Europa wegen Viktor Orbán schon keine gemeinsamen Sanktionen hinbekommt, dann müssen die einzelnen Länder handeln.“
Dieser Meinung ist auch Barbetreiber Data: „Sanktionen sind gut, denn sie treffen die Mitglieder der Regierung persönlich. Aber es muss viel schneller gehen, sie müssen es jetzt spüren.“ Von Europa hat er das Gefühl, dass dort gerne Reden geschwungen werden, wie mutig doch die Georgier im Außenposten Europas seien und wie tapfer sie kämpfen würden – aber dann passiere zu wenig.
Die USA und Großbritannien haben Georgiens Innenminister und ranghohe Polizisten mit Sanktionen belegt. Auch die baltischen Staaten haben Sanktionen verhängt. Die Regierung reagiert mit Beförderung der Betroffenen, mit Ehren-Orden und der Ankündigung, finanzielle Nachteile auszugleichen. Man kann diese Reaktion auch als Zeichen der Schwäche deuten, mit dem die Regierung versucht, ihre Leute zusammenzuhalten.
Die Präsidentin als Integrationsfigur
An Tag 25 hat sich die Präsidentin für den Abend mit einer Rede vor dem Parlamentsgebäude angekündigt. Salome Surabischwili ist die letzte Vertreterin der Opposition in Amt und Würden. Sie wurde zwar einst von der Regierungspartei unterstützt, hat sich aber seit langer Zeit abgewandt und steht inzwischen für ein demokratisches und europäisches Georgien ein. Wie in Deutschland ist die Präsidentschaft in Georgien ein eher repräsentatives Amt. Surabischwili ist zwar Oberbefehlshaberin des Militärs, hat aber sonst kaum Macht, dafür vor allem moralische Autorität.
Schon im Vorfeld der Rede hatte die Regierung versucht, diese zu sabotieren. Die Polizei beschlagnahmte laut Medienberichten Bühne und Veranstaltungstechnik. Am Abend strömen dann Zehntausende, vermutlich sogar mehr als 100.000 Menschen zum Parlament, um die Präsidentin zu hören. Es ist noch voller als am Abend zuvor. Eng drängen sich die Menschen rund um das Parlament.
Erneut fährt die Regierung wieder Wasserwerfer auf, die am Liberty Square am Rande der Demo warten. Vor der Rede singt die Menge die georgische Nationalhymne, es wird die „Ode an die Freude“ gespielt, dann spricht Surabischwili mit einer Dreiviertelstunde Verspätung endlich. Die Menschen werden ruhig, damit alle sie verstehen können auf der viel zu kleinen Anlage.
Doch nach knapp zehn Minuten bricht der Ton ab. Laut Medienberichten fällt auch die Fernsehübertragung aus. Warum das passiert, bleibt ein Rätsel. Die Menschen vermuten Sabotage, doch der Abbruch der Rede lässt die Massen etwas ratlos stehen.
Immerhin kommt Surabischwili in der Rede (hier dokumentiert) noch dazu, der Regierung ein Ultimatum zu stellen: Bis zum 29. Dezember sollen Neuwahlen ausgerufen werden. Der Oligarch Bidsina Iwanischwili, der keine offizielle Rolle in der Regierung hat, soll zu Verhandlungen in den Präsidentenpalast kommen, er entscheide doch eh alles. Wegen des Abbruchs soll die Rede am heutigen Montag im Präsidentenpalast wiederholt werden.
Ultimatum zum 29. Dezember
Am 29. Dezember endet die Amtszeit der oppositionellen Präsidentin Salome Surabischwili, die Regierung hat einen ehemaligen Fußballer als Nachfolger bestimmt. Surabischwili hat gesagt, dass sie im Amt bleiben will, weil die Nachfolge von einer illegitimen Regierung gewählt wurde. Es kann sein, dass sie die Protestbewegung dazu aufruft, den Palast zu schützen, wenn sie sich dem Amtswechsel widersetzt. Dann käme es zu einem gefährlichen Showdown. Für diesen Fall hat Ministerpräsident Irakli Kobachidse auf einer Pressekonferenz angekündigt, die Präsidentin festzunehmen.
Den Rückhalt bei den Protestierenden hat sie jedoch, wie der Sonntagabend gezeigt hat. Ich habe niemanden auf der Straße getroffen, der nicht bereit wäre, zum Präsidentenpalast zu gehen, wenn Surabischwili dazu aufruft. In der Zuspitzung sieht Data auch eine Chance: „Bislang haben wir nur reagiert auf die Regierung, am 29. Dezember könnten wir in die Initiative kommen.“
Eine Lösung des Konfliktes scheint nur zu sein, dass die Regierung einlenkt und die Freilassung der Festgenommen und Neuwahlen zusagt. Derzeit sieht es noch nicht danach aus.
Herr Kobachidse muss soweit emotionalisiert werden, dass er sein black-swan-event erlebt und von seinen Sicherheitskräften nicht mehr geschützt wird. Dann kommen die großen Cargolifter und Kobachidse bekommt ein Platz in Putins Altersheim für gefallene Despoten, gleich neben der netten Familie Assad.
Danke für die Berichterstattung! Ich wünsche den Georgiern alles Gute und dass sie ihre Demokratie verteidigen können.